- 25 Jahre mit Brunetti: Das ist ja beinahe so etwas wie eine Silberhochzeit?
Brunetti und ich sind nun schon 25 Jahre zusammen, etwa dreimal so lang wie ein durchschnittliches amerikanisches Ehepaar. Vielleicht hat das damit zu tun, dass Brunetti Italiener ist, denn in Italien bleiben Paare – zumindest in unserer Altersklasse – tendenziell länger zusammen als anderswo. Zum Glück habe ich mir vor einem Vierteljahrhundert einen intelligenten, anständigen Mann ausgesucht. Als wir uns kennenlernten, faszinierte mich, dass wir dieselben Bücher mochten. Und während wir dann Seite an Seite durchs Leben gingen, erfuhr ich immer mehr über ihn und lernte seinen Humor schätzen sowie seinen Sinn für Gerechtigkeit. Er ist geduldig und friedfertig; selten musste ich erleben, dass er die Stimme hob. Er nimmt sich Zeit für seine Kinder und ist aufrichtig an ihnen und ihrer Erziehung interessiert. Seine Intelligenz und seine Moral beeindrucken mich nach wie vor, und ich freue mich darauf, noch manches Jahr mit ihm zu verbringen.
- Als Amerikanerin sind Sie unlängst mit dem Pepe-Carvalho-Preis ausgezeichnet worden, weil die Brunetti-Romane so durch und durch mediterran geprägt
Vielleicht liegt’s an der Leidenschaft für gutes Essen? Das soll ein Scherz sein, oder vielleicht auch nicht, die Frage ist keineswegs müßig. Die Protagonisten der meisten Mittelmeerkrimis sind den Sinnenfreuden zugetan. Sie essen gerne, lieben schöne Städte oder eine schöne Landschaft um sich her und freuen sich am Anblick ihrer Mitmenschen. Selbst die Nebenfiguren in den Romanen legen Wert darauf, gut auszusehen, gut gekleidet zu sein, gut zu essen und das Leben zu genießen.
Die Protagonisten mediterraner Krimis sind in der Regel zufriedener; und sie sind weniger mit Gewalt konfrontiert. Frauen werden mit Respekt behandelt, Respekt vor ihrer Intelligenz und vor ihrer Weiblichkeit.
- Das Leben im Süden ist angenehm, und Venedig besticht durch die Schönheit der Stadt. Und doch kommt Brunetti kaum noch gegen die Verbrechen an. Beim Stichwort „mediterran“ denkt man eben auch an Mafia, Korruption und internationale Verstrickungen.
Viele Krimis befassen sich heutzutage mit Problemen, die weit über die Landesgrenzen hinausgehen: keine winzigen Dörfer in Essex mehr. Der Handel mit Waffen, Frauen, Migranten und Drogen, die Bedrohung des Planeten durch Umweltzerstörung, Korruption in Politik und Gesellschaft, der fortwährende Amtsmissbrauch durch Staat und Kirche, all das betrifft die Menschen allerorten. Wir gehen nur immer wieder der Illusion auf den Leim, dass das Ästhetische einen großen Einfluss habe, und bilden uns ein, die Schönheit der Umgebung teile sich den Bewohnern mit, mache sie zu besseren Menschen und lasse sie sich besser benehmen. Aber das stimmt nicht. Immer wieder sind die Leute überrascht, dass sich in einer so schönen Stadt wie Venedig so üble Machenschaften zutragen können.
- Brunetti gibt dennoch nicht auf. Glauben Sie, es ist irgendwie möglich, die Welt zu verbessern?
Ich persönlich engagiere mich lieber für die Zukunft der Musik, wobei mir die Musik des Barock besonders am Herzen liegt. Ich unterstütze Aufnahmen von Barock-Opern und arbeite häufig mit dem Orchester Il Pomo d’Oro an gemeinsamen Projekten. Ich habe Texte für die Booklets mehrerer Händel-CDs verfasst und einen Roman über Agostino Steffani geschrieben, der zusammen mit Cecilia Bartolis Einspielungen seiner Musik erschienen ist. Auch Tieren gegenüber bin ich großzügig, weil sie selbst so wenig Taschengeld haben. Seit Jahren unterstütze ich das Dachszentrum von Secret World, einer englischen Tierschutzorganisation, die verletzte Wildtiere in Pflege nimmt, sie aufpäppelt und dann wieder in die Freiheit entlässt. Und ich unterstütze New Graceland, eine Auffangstation, die herrenlose Windhunde aus Spanien holt und in die Schweiz vermittelt. Doch ich halte mir darauf wenig zugute. Ebenso wie mein heiteres Gemüt habe ich die Tierliebe von meinen Eltern geerbt, die ihr Leben lang außerordentlich großzügig waren.
- Brunetti holt sich beim Lesen neue Kraft – und Sie?
Ich werde oft gefragt, was für Krimis ich lese, und ich muss gestehen, ich lese selten welche, und wenn, dann die der großen Meister: Hammett, Chandler und Ross Macdonald. Die schreiben eine erstaunliche Prosa, mögen ihre Detektive und Polizisten noch so abgebrühte Zyniker sein. Auch ihre Geschichten können noch so weithergeholt sein, mich fesselt ihre klare, frische, oft herrlich komische Sprache.
Was meine private Lektüre betrifft, halte ich mich wie Brunetti an die Klassiker. Zurzeit lese ich Tom Hollands wunderbare Übersetzung von Herodot, den ich seit Jahrzehnten nicht mehr gelesen habe.
- Wo genau stammen die Ideen für Ihre Fälle her?
In der Vergangenheit kamen die Ideen häufig aus der Zeitung, aus irgendeinem Artikel, der mein Interesse weckte und die Frage aufwarf: „Wie konnte das geschehen?“, „Was bringt einen Menschen so weit?“ Inzwischen kommt es immer öfter vor, dass ich bei Gesprächen etwas aufschnappe oder Freunde mir etwas erzählen, worin ich das Skelett eines Romans erkenne. Auch bei diesen Geschichten stellt sich mir die Frage: „Was bringt einen Menschen so weit?“ Als Erstes vergegenwärtige ich mir die Tat, und dann versuche ich mir vorzustellen, was jemanden so weit gebracht haben könnte.
- In Ihrem neuesten Buch Ewige Jugend rollt Brunetti einen Fall wieder auf, der einst als Unfall zu den Akten gelegt wurde. Brunetti geht in die Vergangenheit zurück. Kein Fall aus der Zeitung?
Diesmal hat mich Ross Macdonald inspiriert, einer meiner Lieblingsautoren, der bei Diogenes wiederaufgelegt wird. Für die Neuübersetzungen habe ich jeweils ein Nachwort verfasst und dazu die Bücher nach langer Zeit wiedergelesen. Bei ihm pflegt sich die Vergangenheit in der Gegenwart zu rächen und führt noch eine Generation später zu Toten. Das wollte ich auch einmal probieren.
- Durch ihren Sturz in einen venezianischen Kanal vor 15 Jahren ist Manuela Lando-Continui, die Heldin des Buches, zu „ewiger Jugend“ verdammt.
In meiner Rohfassung gab es einen Toten, und dieser Tod wurde 15 Jahre später erneut untersucht. Ich hatte schon hundert Seiten geschrieben, doch ständig hörte ich eine Stimme, die mir sagte, da stimmt etwas nicht, du bist auf dem Holzweg. Bis ich begriff: Es ist immer bedauerlich, wenn jemand stirbt, doch nach so langer Zeit leben wir unser Leben weiter und lassen die Toten ruhen.
Ist jedoch jemand auf eine Weise verletzt, die für seine gesamte Umgebung eine lebenslängliche Heimsuchung bedeutet, dann ist das etwas ganz anderes. Also fing ich noch einmal von vorne an und erweckte die Tote wieder zum Leben. Mit ihrem heutigen Schicksal erregt Manuela, wie ich hoffe, unser Mitleid und unsere Anteilnahme.
- Hat Brunetti sich über die Jahre verändert?
Ich hoffe, Brunetti ist über die Jahre klüger und toleranter geworden, eher bereit nachzuvollziehen, was andere antreibt, oftmals schlimme Dinge zu tun. Seine Einstellung zum Leben ist ein wenig nachsichtiger geworden. Zugleich hat sich seine Weltsicht angesichts der Zustände verdüstert, weil es immer unwahrscheinlicher erscheint, dass sich irgendetwas tatsächlich zum Guten wenden könnte. Dennoch hält Brunetti an der Überzeugung fest, dass man immerhin versuchen sollte, den Missständen soweit als möglich entgegenzutreten.
- Geht er bald in Ruhestand?
Im Moment denke ich nicht daran, Brunetti in Pension zu schicken. Ich kenne einige Krimis, in denen der Kommissar im Ruhestand ist und keine Amtsgewalt mehr ausüben kann, das macht alles sehr kompliziert. Das Prozedere der Aufklärungsarbeit ist mühselig genug – da möchte ich jederzeit auf den Polizeiapparat zurückgreifen können. Also schicke ich Brunetti weiter in die Questura und sorge dafür, dass ihn stets ein paar Jahre vom obligatorischen Rentenalter trennen.
Interview mit Donna Leon
von Christine Stemmermann, 11.3.2016
© by Diogenes Verlag AG Zürich