[Konzert] Vergessene Komponisten, unvergessliche Musik – Ein Plädoyer für mehr Vielfalt im Konzertsaal in Gießen!
Ich könnte ja sagen, endlich mal wieder Klassik, aber das spielt sich ja des Öfteren bei mir ab. Also ab ins Stadttheater Gießen. Für eine Vorbereitung auf das Thema des Abends ist momentan wenig Zeit, da die Schlagzahl für eine Person alleine doch recht hoch ist.
Ich bin also unvorbereitet in die Einführung gegangen. Ein wenig Angst hatte ich ja, da die Anlage im Foyer nicht immer mein Freund ist, wobei ja letzte Woche bei der Opernpremiere, war sie ja sehr gut. Aber entweder sie sind meine laufenden Nörgeleien was die Anlage für die Einführung betrifft leid und die Anlage ist jetzt endlich so, dass man gemütlich sein Getränk und vielleicht noch eine Brezel zu sich nehmen, und in diesem Fall Vladimir Yaskorski lauschen kann. Egal was passiert ist, ich danke dafür aus tiefstem Herzen und vollster Überzeugung. Die zweite Möglichkeit, dass die kompletten Gäste im Theater wesentlich ruhiger sind, lasse ich mal außer Acht.
Ich finde es immer wieder schön, wie Herr Yaskorski komplexe Zusammenhänge locker flockig erklärt. Man merkt immer wieder, dass er das, was er macht, liebt. Menschen, die etwas aus vollster Überzeugung machen, strahlen etwas Besonderes aus. Es ist das, was ich momentan an unserem Stadttheater einfach so liebe. Jeder macht das was er liebt und dies mit vollster Überzeugung.
Er erzählte vor allem über den ersten beiden Stücken, worauf man achten sollte und was man so hört, aber alles kurz und knapp. Wer es ausführlich will, dem kann ich das Previewkonzert immer ein Tag vor dem Konzert empfehlen. Da bekommt man Musikunterricht wie er besser nicht sein könnte.
Aber wie genial die Stücke und Solisten waren, darauf war ich dann doch nicht vorbereitet. Wenn es um neue Klassik geht, da habe ich ja oft leichte Bauchschmerzen. Erwin Schulhoff ist ein Komponist, der im Konzentrationslager starb. Er wurde zu den Komponisten der entarteten Musik gezählt. Das was ich gehört habe war anders, aber Erwin Schulhoffs: Doppelkonzert für Flöte, Klavier und Orchester WV89 aus dem Jahr 1927 war einfach toll. Und da sind wir wieder bei dem Thema. Wollen wir alles was Kunst und Kultur schaffen kann verteufeln? Als entartet bezeichnen nur, weil es von jemanden ist, der einen anderen Glauben hat oder eine andere Hautfarbe oder einfach einen anderen Stil?
Was ich da heute Abend mit diesen beiden Ausnahmekünstlern gehört habe war phantastisch. Wie Grigory Mordashov mit der Flöte umgeht ist Wahnsinn. Ich würde ihn gerne mal fragen, ob er überhaupt mal Luft holt. Das frage ich mich so oder so immer bei jedem Musiker mit einem Blasinstrument. Was ich da heute Abend gehört und gesehen habe, sah und hörte sich teilweise leicht an, aber ich habe das Gefühl, dass dies eine akustische Täuschung ist.
Dazu der Pianisten Grigor Asmaryan, der zusammen mit Grigory Mordashov zum einen kraftvoll aber auch zart zusammen musiziert hat. Dann das Zusammenspiel mit dem Orchester! Ich hätte dem ganzen noch länger zuhören können. Ich hatte das Gefühl, dass das Publikum ähnlich gedacht hat. Es war im Gegensatz zu sonst auch in den Pausen sehr still und wollte nicht applaudieren. Ich glaube nicht, dass es daran lag, dass es schlecht war, sondern es war anders und perfekt. Manchmal kann Applaus auch stören und die Stimmung unterbrechen. Bei mir selbst war es so, dass ich liebend gerne noch die ein oder andere Minute eine Zugabe gehabt hätte, anstatt zu applaudieren.
Komme ich nun zu Alfred Schnittke, auch wieder ein Mensch jüdischer Abstammung, aber er kam später zur Welt. Die Gogol Suite ist aus dem Jahr 1978. Was ich während dieser Suite hörte war berauschend. Da gibt es das Keyboard, barocke Klänge und E-Gitarren, dazu Klänge aus dem Schlagwerk, wo ich mir noch nicht mal sicher bin, ob ich die wirklich gehört habe. Ja, es war grotesk, aber auch in sich stimmig. Ja, ich habe „Die Nase“ von Gogol gehört, aber ich war teilweise wie in einem Gruselfilm und dann wieder mitten auf dem Jahrmarkt in Spanien. Es war für mich nicht zu greifen. Genauso wie Schulhoff ist auch Alfred Schnittke ein Komponist, wo ich denke, der muss auf die großen Bühnen dieser Welt. Zumindest die Gogol Suite sollte jeder Mensch kennen. Das ist so das, was mir immer wieder auffällt, dass Menschen, wenn sie den Begriff Klassik, oder neue Klassik hören, an etwas Hochtrabendes denken. Die Mischung der Instrumente von Schnittke bei diesem Stück live zu hören und zu sehen, ist einfach genial. Es ist nicht zu glauben, wie abwechslungsreich das sein kann. Während der Pause sprach ich mit jemandem, die auch vom Klangspektrum so fasziniert war, dass sie immer wieder sehen wollte, wo die Musik herkommt, welches Instrument diese Klänge erzeugt. Und noch etwas: wenn das oft unterschätzte Schlagwerk nach dem Stück fast schon Standing Ovations bekommt, dann weiß man, dass da etwas passiert ist, wo jeder gemerkt hat, was diese (zumindest in der Klassik) oft unterschätzte Instrumentengruppe zu Leisten im Stande ist.
Nach der Pause gab es noch Franz Schreker mit „Der Geburtstag der Infantin“. Da bin ich dann wieder bei dem Thema, warum wird dieser Komponist nicht mehr gespielt?
Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, wurde er zu Lebzeiten sehr viel gespielt. Warum jetzt nicht mehr?
Ich war wie in einem Klangteppich verwoben. Es war die Harfe, die mich gleich gefangen genommen hatte, aber auch wieder das Schlagwerk. Es war nicht so wie bei Schnittke, aber doch wieder auf einer ganz besonderen Ebene, dazu die Klarinette und das Fagott. Ich kann noch nicht mal sagen, dass mich eines der Instrumente nicht abgeholt hätte. Zu diesem Klangteppich, der mich noch immer gefangen hält, gehören im Übrigen auch die Streichinstrumente dazu. Was auch diese Musiker vor mir alles gegeben haben war einfach toll. Es gab an dem Abend Töne aus den Streichinstrumenten, die ich so lange nicht mehr gehört habe.
Es waren drei Komponisten, die wohl aus unterschiedlichsten Gründen nahezu vergessen wurden, die mir heute etwas ganz Besonderes gegeben haben. Ich bekomme immer wieder von verschiedenen Musikern gesagt, dass die Stücke zumindest schon fordernd und gut sind. Da sind Musiker dabei aus dem MDR-Sinfonieorchester oder auch mal Natascha Korsakova, mit der ich mich über die Stücke austausche. Als ich heute Abend in meinen sozialen Netzwerken das mit dem Konzert gepostet habe, kam aus verschiedenen Ecken ein „wow“ oder ähnliches. Ich glaube, ich werde mich Morgen wieder mit verschiedenen Musikern austauschen und ihnen meine Erlebnisse erzählen.
Wenn ihr wissen wollt, wie man mit solchen Menschen in Kontakt kommt, ganz einfach: erzählt von euren musikalischen Erlebnissen. Sie finden euch sehr schnell. Und dafür danke ich dem Philharmonischen Orchester und allen die dazu gehören.
Was ich aber nicht mag und was mich mittlerweile wirklich aufregt, sind Menschen, die sich für so wichtig halten, dass sie ihr Telefon nicht ausschalten können. Es war nun schon wieder ein Klingelton mitten in dem Stück zu hören, sodass die Musiker aufhören mussten. Es ist genauso störend, wenn SMS oder WhatsApp Nachrichten reinkommen. Es gibt Menschen, die schaffen es nicht, ihr Smartphone wenigstens zwei Stunden lang aus zu lassen. Seid mal ein wenig mehr offline und nicht immer nur online! Genießt das, was vor euch passiert! So etwas könnt ihr nicht online erleben. Es ist ein ganz anderes Erlebnis und mit eurem Smartphone stört ihr einfach nur die anderen Menschen und Musiker im Saal. Das alles hört sich anders an, als bei YouTube oder Spotify. Nehmt es mit allen Sinnen wahr. Solisten wie heute Grigory Mordashov oder Grigor Asmaryan zusammen mit unserem Orchester in Gießen werdet ihr so nicht mehr erleben, denn jedes Konzert, besonders die klassischen, ist anders, da immer viele Menschen vor einem live spielen. Also Smartphone aus und genießen, denn auch ihr Geist braucht ein wenig Abstand von diesem Gerät. Ihre Psyche wird es ihnen danken.