- Was ist der Kern Ihres Romans?
Joachim B. Schmidt: Im Mittelpunkt des Romans steht der Haifischfänger Kalmann. Er stolpert in einen Vermisstenfall hinein, was sein bisher simples Leben total kompliziert macht.
- Kalmann ist Ihr viertes Buch. Was macht diesen Roman besonders für Sie?
Joachim B. Schmidt: Es hat mir enormen Spaß gemacht, dieses Buch zu schreiben. Ich habe mir dabei alle Freiheit gelassen. Dass ich bei Diogenes einen Traumverlag gefunden habe, ist schon jetzt ein Großerfolg für mich, eine wichtige Bestätigung.
Aber das wirklich Besondere an meinem vierten Roman ist der Protagonist Kalmann. Eigentlich hätte er gar nicht die Hauptfigur, sondern einfach nur der Dorftrottel sein sollen. Doch schon nach wenigen Seiten ist er ins Rampenlicht gelatscht und dann dortgeblieben. Noch nie habe ich die Kontrolle über eine Romanfigur so sehr verloren wie über ihn. Ich habe ihn darum einfach machen lassen und mich mitreißen lassen.
- Wie würden Sie Kalmann beschreiben und wie nah ist er Ihnen?
Joachim B. Schmidt: Salopp ausgedrückt ist Kalmann der Dorftrottel von Raufarhöfn (sprich: Reuwarhöbb). Er hat eine geistige Behinderung, seine Mutter ist sein Vormund. Aber was genau mit ihm los ist, will ich bewusst nicht erläutern — und ich weiß es auch tatsächlich selbst nicht. Kalmann ist einfach Kalmann, Behinderung hin oder her. Er ist ein Original, und in gewisser Hinsicht ist er viel gescheiter als alle anderen. Kalmann ist einzigartig, er ist verschroben, naiv und so ehrlich, dass es manchmal weh tut. Er ist mir viel näher, als man denkt. Im Gegensatz zu ihm gelingt es mir aber viel besser, mein Misstrauen, meinen Missmut, meine Enttäuschung oder meine Angste vor anderen zu verbergen. Ehrlich gesagt wünschte ich, ich wäre ein bisschen so wie Kalmann. Er kann die Dinge einfach auf den Punkt bringen. Ich nicht — wie man diesen langen Antworten entnehmen kann. Kalmann ist mein bisher persönlichstes Buch. Ich vermute aber, dass jeder einen Kalmann in sich hat, für den man sich ein wenig schämt.
- Kalmann ist ein Philosoph. Waren seine teils poetischen, teils sehr abgeklärten Gedanken schon da, oder kamen sie mit ihm?
Joachim B. Schmidt: Mich in die Romanfigur zu versetzen hat mir geholfen, die Dinge, die Welt und das Universum besser zu verstehen. Kalmanns kindliche Naivität brachte überzeugende Einsichten zu Tage. Etwa: Ein Ei kann sich nicht selber legen. Oder: Auf dem Friedhof fällt eine Leiche am wenigsten auf.
- Wie sind Sie nach Island gekommen? Wie lebt es sich dort, und was macht die Faszination des Landes für Sie aus?
Joachim B. Schmidt: Darüber könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Meine Faszination für Island begann schon in der Schule, aber so richtig verliebt habe ich mich im zarten Alter von 16 Jahren auf meiner ersten Islandreise. Meine Patentante Julika hat mir die Reise zum Geburtstag geschenkt und mich begleitet.
In Island erleidet ein Schweizer keinen Kulturschock, schließlich leben beide Völker auf einem Inselchen in Europa: zwei ehemalige Bauernvölker, die von den Königen in Ruhe gelassen werden wollten. Die Leute machen noch heute ihr eigenes Ding. Und doch ist Island völlig anders: das Meer, die unbewohnten Steinwüsten, die Fjorde, die Vulkane, die dunklen Winter, die hellen Sommer . . . Island ist für mich ein Wunderland und Inspiration pur.
- Flora und Fauna Islands spielen eine besondere Rolle im Roman, der Schnee ist beinahe ein Protagonist. Woher kommt dieses Detailwissen?
Joachim B. Schmidt: Zum einen lebe ich nun schon seit 13 Jahren in Island. Das Wetter beeinflusst meinen Alltag. Etwa wenn ich wegen ständigen Winterstürmen mit den Kindern nicht aus dem Haus komme. Oder wenn die Kinder im Sommer schon um vier Uhr aufstehen wollen, weil die Sonne zum Fenster hereinscheint. Ich habe für ein Jahr in den Westfjorden gelebt, in Isafjördur.
Manchmal waren wir für einige Tage am Stück von der Außenwelt abgeschnitten; Straßen zu, Flüge gestrichen. Kürzlich haben sich zwei Touristen im Schneesturm aus den Augen verloren und sind beide erfroren. Das Wetter in Island ist unbarmherzig und spielt fast täglich eine Rolle.
Zum anderen hat das Wetter auch im Kanton Graubünden, meiner alten Heimat, das Sagen. Knapp unterhalb der Waldgrenze gleichen sich Fauna und Flora. Island und Graubünden gleichen sich.
Aber mal abgesehen von der rauhen Natur, die mich seit meiner Kindheit umgibt, bin ich ein neugieriger Mensch. Während der Buchrecherchen bin ich ganz Journalist. Und nicht zuletzt hilft mir die Ausbildung zum Reiseleiter, die ich in Island gemacht habe. Während eines Winters musste ich nämlich alles über Island lernen, nicht nur Fauna und Flora, sondern auch Geschichte und Geologie.
- Wie gut kennen Sie die Romanschauplätze?
Joachim B. Schmidt: Ein guter Freund von mir hat seine Doktorarbeit über Raufarhöfn geschrieben. Durch ihn habe ich einiges über die missliche Lage gelernt, in der sich die Leute dort befinden. Deshalb wollte ich meinen nächsten Roman da ansiedeln und verbrachte ein paar intensive Tage in dem winzigen Ort, belästigte die Fischer am Hafen, die Seniorinnen und Senioren im Treff, den Dichter in seiner Bibliothek, und ich trampelte über die Melrakkasletta, die schier endlose, sumpfige Ebene. Ich stand am nördlichsten Zipfel der Insel und blickte übers Meer bis fast zum Nordpol. Eine phantastische Kulisse für einen Vermisstenfall.
- Den Arctic Henge, einen Steinkreis in Raufarhöfn, gibt es wirklich. Ist dieser Versuch, Touristen anzuziehen, exemplarisch für die ehemaligen Fischfangdörfer Islands?
Joachim B. Schmidt: Ja. Und mein Buch wird hoffentlich dazu beitragen! Es gibt in Island ein paar Fischerdörfer wie Raufarhöfn, die bei der Fangquotenverteilung als Verlierer aus dem Rennen gingen, obwohl sie einzig von der Fischerei lebten. Jetzt, wo die Quoten fast ganz weg sind, hat man Angst und versucht verzweifelt, eine neue Existenzberechtigung zu finden. Jammerschade eigentlich, denn diese Dörfer haben eine intakte Infrastruktur für mehrere hundert Menschen. Jetzt steht ein Großteil der Häuser leer, die paar Schüler wirken im großen Schulhaus und in der riesigen Turnhalle völlig verloren. Tourismus kann eine Alternative sein — aber nur begrenzt und saisonbedingt. Dass den Leuten in Raufarhöfn das Geld ausgegangen ist, um den Arctic Henge fertigzustellen, unterstreicht die fast aussichtslose Situation. Hoffentlich wird Kalmann ein Beststeller und der Arctic Henge ein Pilgerort!
- Was hat es mit Noi auf sich?
Joachim B. Schmidt: Noi ist zwar Kalmanns bester Freund, aber die beiden haben sich noch nie gesehen. Er lebt 600 Kilometer von Raufarhöfn entfernt, hat eine chronische Krankheit, und sein Computer ist für ihn das Fenster zur Welt. Er ist ein Zyniker und verständlicherweise ziemlich verbittert. Noi und Kalmann sind Außenseiter, pflegen aber keine sehr gesunde Freundschaft.
Kalmann macht im Buch eine Entwicklung durch, er erweitert seinen Horizont, und Noi kann da leider nicht mithalten — bis er von der Bildfläche verschwindet. Noi ist eine tragische Figur, an die ich oft denken muss. Manchmal frage ich mich, was wohl aus ihm geworden ist. Der Showdown ist ein ganz besonderer Coup: spannend, aufregend, aber auch erschütternd.
- Waren Sie selbst schon einmal in einer ähnlichen Situation wie Kalmann?
Joachim B. Schmidt: Oh, Himmel! Glücklicherweise nicht! Und ich will auch gar nicht verraten, was im Showdown Kalmann passiert, aber ich kann Ihnen sagen, dass ich es nicht überlebt hätte. Manchmal beneide ich Kalmann um seine Bodenständigkeit. Er vertraut seinen Instinkten, und das sollte ich auch öfter machen. Kalmann wusste einfach ganz genau, was zu tun war. Und darum ist er der Held der Geschichte.
- Im Buch fragt Kalmann seinen Großvater, ob Fische Angst hätten. Ist das eine Botschaft für die Leserinnen und Leser?
Joachim B. Schmidt: Im Buch stecken in der Tat ganz viele Botschaften. Ich bin zwar kein Vegetarier, aber ich finde es wichtig, dass wir uns diese Fragen stellen: Haben Fische Angst, wenn sie sich im Netz verheddern? Haben sie Schmerzen? Diese Fragen sind zwar schon beantwortet worden, aber niemand will die Antworten hören. Dazu gehört auch, dass wir unseren enormen Fleischkonsum hinterfragen sollten. Kalmann, der ebenfalls kein Vegetarier ist, hört auf seine Instinkte. Zwar macht er Jagd auf Grönlandhaie, die 400 Jahre alt werden können, doch er scheut sich nicht, sein Tun zu hinterfragen.
- Zu guter Letzt: Können Sie den Geschmack von Gammelhai beschreiben?
Joachim B Schmidt: Gammelhai könnte man durchaus mit scharfem, stinkendem Käse vergleichen — und doch nicht. Bei der Fermentation des Haifleisches werden die Harnstoffe abgebaut, und darum stinkt es dann so nach Ammoniak, also ein bisschen nach Pisse. Das ist schon gewöhnungsbedürftig und treibt einem manchmal die Tränen in die Augen. Das Fleisch selber ist zäh und flutschig. Es hilft, wenn man Brennivin zur Hand hat, womit man die Fleischwürfel runterspülen kann. Skål! Seltsamerweise gewöhnt man sich an Gammelhai — wie man sich auch an einen stinkenden Schweizer Käse gewöhnen kann.
(c) Diogenes Verlag 2020