[Interview] Marco Balzano über das Buch: Ich bleibe hier
Was hat Sie dazu motiviert, einen Roman über Graun, ein Dorf in Südtirol,zu schreiben? Und wofür stehen Graun und sein Schicksal?
Marco Balzano: Für mich bedeutet Literatur, die Seiten zu erzählen, die aus den Geschichtsbüchern herausgerissenen wurden. Ich stelle mir den Schriftsteller gern als Taucher vor, der etwas Versunkenes aus der Tiefe des Wassers an die Oberfläche bringt. Im Fall Graun ginges mir nicht nur darum, eine wichtige Seite über den Faschismus und den Nationalsozialismus zu erzählen (Südtirol ist einer der ganz wenigen Orte in Europa, an dem die beiden Diktaturen direkt aufeinander gefolgt sind), es ging nicht nur um eine kaum bekannte Seite der Geschichte Italiens, sondern auch um eine Geschichte von Grenzen, um eine Geschichte, in der ein blindwütiger, sinnloser Fortschritt eine Landschaft, eine Gemeinschaft, eine Welt zerstört. Solche Geschichten geschehen täglich, gestern wie heute, in Graun und anderswo.
Sprache spielt eine herausragende Rolle in Ihrem Roman. Wie wichtig ist die Sprache für Sie persönlich? Und welche Rolle spielt Sprache in Zeiten von Migration?
Marco Balzano: Der Philosoph und Schriftsteller De Maistre sagt, dass der politische Verfall immer von einem entsprechenden sprachlichen Verfall begleitet ist. Und ich glaube, dass diese Wahrheit allgemein sichtbar ist. Wir können selbst entscheiden, ob wir diesen Verfall vom Fenster aus betrachten wollen oder uns die Sprache, das heißt, das Instrument des Denkens, zu Herzen nehmen. Die Sprache braucht man nicht unbedingt, um zu kommunizieren, man braucht sie, um einen Gedanken zu fassen. Wenn mir ein bestimmtes Wort fehlt, wird mir auch der entsprechende Gedanke fehlen. Ein Schriftsteller muss immer versuchen, das Schweigen zum Reden zu bringen, das ist die größte Herausforderung. Ein Schweigen, dem es gelingt, das auszudrücken, was man nicht sagen kann, das, wofür die Wörter nicht genügen. In Ich bleibe hierwollte ich eine Frau darstellen, die an das Wort als Mittel zum Widerstand glaubt. Auch als das Wasser das Dorf überflutet, auch als Trina alles verliert, auch als sie besiegt ist, bleiben ihr die Worte. Und solange wir die Möglichkeit haben, sie auszusprechen, haben wir nicht alles verloren.Das Wort »Identität«mag ich nicht, ich ziehe »Ähnlichkeit«vor, weil es darauf hinweist, dass wir gleich, aber auch verschieden sind. »Ähnlichkeit«ist ein wunderschönes Wort, »Identität«ist ein altes, konservatives Wort. Ich denke lieber, dass die Sprache Brücken baut und gemeinsame Räume schafft, statt undurchlässige, geschlossene Abteilungen. Außerdem dürfte man in einer freien Welt die Muttersprache niemals verlieren. Wenn man es sichgenau überlegt, haben alle Diktaturen immer auch die Sprache betroffen. In Ich bleibe hiererzähle ich, wie Mussolini den Südtirolern verboten hat, ihre Sprache zu sprechen und in der Schule zu unterrichten. Sprache bedeutet Gedankenfreiheit, sie ist immer das Gegenteil von Diktatur.
Im Moment gewinnen rechte und konservative Parteien überall auf der Welt wieder mehr Zuspruch. Erschreckt Sie dies?
Marco Balzano: Natürlich, der Wind des Vorurteils, des Konservatismus, des Rassismus und der Angst, der durchdie Welt weht, erschreckt mich sehr. Es ist, als versuchte die westliche Welt, ihre Privilegien zu verteidigen und gleichzeitig einen großen Teil des Planeten weiter auszubeuten. Sich zu verstecken oder Mauern zu errichten nützt nichts: Mauern sind im Lauf der Geschichte immer wieder eingerissen worden. Die Progressiven haben die große Chance, zu beweisen, dass »der Andere«ein Reichtum ist, auf den der überalterte Westen nicht verzichten kann. Diese Chance wurde bisher vertan oder kaum genutzt: Die Europäische Union zum Beispiel hat sich seit den Zeiten der Wirtschaftskrise wenig solidarisch gezeigt und die schwächeren Länder allein gelassen, und im Umgang mit Migranten hat sie sich individualistisch gezeigt. Was fehlt, ist eine Politik, die eine Vision und eine Strategie hat, denn sonst wird uns nur die Finanz regieren, die nichts Menschliches an sich hat. Diese Vision muss auch eine neue Idee von Schule einschließen, denn ohne eine moderne und demokratische Schule wird keine Integration verwirklichbar sein.
»Der Schriftsteller ist ein Taucher, der etwas Versunkenes aus der Tiefe des Wassers an die Oberfläche bringt«Ein Interview mit Marco Balzano von Dagmar Kaindl,Februar2020
© Buchkultur. Aus dem Italienischen von Maja Pflug
© Diogenes Verlag
Südtirolern verboten hat, ihre Sprache zu sprechen und in der Schule zu unterrichten. Sprache bedeutet Gedankenfreiheit, sie ist immer das Gegenteil von Diktatur.3.Im Moment gewinnen rechte und konservative Parteien überall auf der Welt wieder mehr Zuspruch. Erschreckt Sie dies?Marco Balzano: Natürlich, der Wind des Vorurteils, des Konservatismus, des Rassismus und der Angst, der durchdie Welt weht, erschreckt mich sehr. Es ist, als versuchte die westliche Welt, ihre Privilegien zu verteidigen und gleichzeitig einen großen Teil des Planeten weiter auszubeuten. Sich zu verstecken oder Mauern zu errichten nützt nichts: Mauern sind im Lauf der Geschichte immer wieder eingerissen worden. Die Progressiven haben die große Chance, zu beweisen, dass »der Andere«ein Reichtum ist, auf den der überalterte Westen nicht verzichten kann. Diese Chance wurde bisher vertan oder kaum genutzt: Die Europäische Union zum Beispiel hat sich seit den Zeiten der Wirtschaftskrise wenig solidarisch gezeigt und die schwächeren Länder allein gelassen, und im Umgang mit Migranten hat sie sich individualistisch gezeigt. Was fehlt, ist eine Politik, die eine Vision und eine Strategie hat, denn sonst wird uns nur die Finanz regieren, die nichts Menschliches an sich hat. Diese Vision muss auch eine neue Idee von Schule einschließen, denn ohne eine moderne und demokratische Schule wird keine Integration verwirklichbar sein.