[Rezension] Kalte Füße – Francesca Melandri Wie der Krieg die Körper und Gedanken zweier Generationen prägte – damals wie heute.
Wie der Krieg die Körper und Gedanken zweier Generationen prägte – damals wie heute.
Klappentext:
Was bedeutet Krieg? Und was, wenn man auf der falschen Seite kämpft? Francesca Melandri erzählt die Geschichte ihres eigenen Vaters – und bringt die Stille einer ganzen Generation zum Sprechen. Eine zutiefst persönliche Spurensuche: ein unerlässliches Buch zum Verständnis unserer Gegenwart.
Ein Militärlazarett in Venedig. Desinfektionsmittel, Fieberschweiß, der unerträgliche Gestank von Wundbrand. Der Sohn liegt im hintersten Bett, er schläft. Die Mutter hebt die Decke am unteren Ende an. Zwei Beine, zwei Füße. Eins, zwei, drei, sie zählt die Zehen – bis zum zehnten. Vorsichtig legt sie die Decke zurück: Endlich kann sie in Ohnmacht fallen.
Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der »Rückzug aus Russland« hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt – auch in der Familie von Francesca Melandri. Ihr Vater hat ihn überlebt.
Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Es ist vor allem die Ukraine, in der der Vater gewesen ist. Was hat er dort wirklich erlebt, warum war er überhaupt dort?
Francesca Melandris »Kalte Füße« ist ein berührendes Zwiegespräch mit einem geliebten Menschen: ein unerschrockenes Buch über das, was der Krieg gestern wie heute in Körpern und Köpfen anrichtet, über das Erzählen als Überlebenskunst – und unsere historische Verantwortung angesichts des Angriffs auf die Ukraine.
»Francesca Melandri verwebt menschliche Schicksale meisterhaft mit der großen Geschichte Europas.« Andrej Kurkow
Rezension:
Manchmal stolpert man über Bücher, die man vorher nicht auf dem Schirm hat. Diesmal „Kalte Füße“ von Francesca Melandri und dieses Buch hat mir einige schlaflose Nächte bereitet, aber dazu am Ende der Rezension mehr. Man lernt in dem Buch ihren Vater Franco Melandri kennen, ein Zeitungsredakteur und Autor, aber auch Gebirgsjäger der Italiener im 2. Weltkrieg – ein Alpini.
Man erfährt viel über den Russlandfeldzug, der für die Alpini zum größten Teil ein Ukrainefeldzug war. Ich merkte, dass so eine Rettung aus dem Krieg auch immer wieder eine „Glückssache“ ist. Es hängt davon ab, auf wen man so trifft. In diesem Fall sind es ukrainische Frauen, die den Italienern helfen.
Ich sage es immer wieder: man braucht gutes Schuhwerk. Dabei wurde im 2. Weltkrieg wohl gespart. Wie wichtig es war, dass man warme Schuhe hat, wie z.B. die „Walenki“, ein Filzstiefel, der wunderbar gegen Kälte schützt, mussten viele Soldaten schmerzhaft erfahren.
Man bekommt nebenbei auch noch einen Abriss der ukrainischen Geschichte, z.B. auch über den „Holodomor“, den Tod durch Hunger, welchen die Ukrainer 1932/33 erleiden mussten. In den Augen Moskaus führten die Ukraine als Teilrepublik nicht genug Getreide an die Sowjetunion ab, weswegen die Regierung das Getreide in der Ukraine komplett konfiszierte und so den Hunger und Tod in den ländlichen Regionen beförderte.
Solche Dinge passieren in totalitären Systemen immer wieder. Da werden bestimmte Bevölkerungsgruppen als Soldaten benutzt, da man auf die ja besser verzichten kann, um andere Teile der Bevölkerung zu schützen, die besser gestellt sind als die anderen. Auch der Kommunismus machte da keine Ausnahme. Wie George Orwell in der „Farm der Tiere“ so treffend schrieb: „Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher.“.
Francesca Melandri nimmt einen mit ihrem Vater mit in die Ukraine. Sie zieht immer wieder Vergleiche, zwischen den Kriegen heute und dem des 2. Weltkrieg. Sie zeigt, auf, wieso der Krieg um die Ukraine damals wie heute aus Sicht der kriegsführenden Parteien so wichtig war und ist. Man möchte die schwarze Erde besitzen, die so ergiebig ist und ebenso die Bodenschätze. Das war der Grund, weswegen den Italienern der Krieg gegen Russland schmackhaft gemacht wurde und es ist auch einer der Gründe, weswegen Putin heute einfällt.
Wobei Putins weiteres Ziel ist, dass Russland wieder über das Gebiet der Sowjetunion herrscht. So kommt es mir zumindest manchmal vor, bei dem, was man aus dem Kreml so hört. So sind beide Kriege auch Vernichtungskriege, da wird deputiert, was nur geht. Da wurden bei den Faschisten Juden vernichtet und Städte ausradiert und genauso heute ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht und Kinder verschleppt.
Dieses Land hat beschlossen frei zu sein, seine eigenen Gesetze zu befolgen und nicht wieder in den Schoß Russlands zurückzukehren. Und wenn dieses Land sich damals wie heute verteidigt, dann sollte man es akzeptieren und ihm helfen, und nicht immer wieder, wie es in dem Buch heißt, „Kalte Füße“ bekommen.
Aber nicht nur das war in dem Buch Thema, sondern auch die politische Haltung ihres eigenen Vaters, der im Faschismus groß geworden ist und der wohl ziemlich überzeugt war, von dem, was er geglaubt hat. Wobei das nie so wirklich herauskam, auch wenn es immer wieder Momente gab, in denen es offensichtlich war, aber auch Momente, in denen er Andersdenkende geschützt und nicht verraten hat.
Es ist immer wieder das Widersprüchliche, das in diesem Buch fesselt. Da wird ein Vater, der doch andere politische Ansichten hat, zum einen kritisiert, zum anderen aber auch mit Zuneigung überhäuft und immer wieder alles in einen anderen Blickwinkel gerückt.
Es wird immer wieder gezeigt, wie man widersprüchliche Meinungen des Vaters akzeptieren, und nicht nur laut und beleidigend heruntermachen, sondern mit Fakten widerlegen kann und trotzdem nicht die Achtung vor dem Gegenüber verliert. Dies macht sie nicht nur bei ihrem Vater, sondern auch bei anderen Menschen. Sie zeigt auch ihre eigenen Widersprüche in ihrem Denken und ihrem Tun auf. Das ist wie bei einem im Sprachkaffee in Gießen, in dem ich gelegentlich tätig bin. Er ist Russe, ein feiner Mensch. Er ist teilweise auf der Seite Putins, aber ist vor dem Krieg geflüchtet, denn er muss doch seine Frau, eine Ukrainerin, schützen.
Und gerade dies alles macht das Buch so intensiv. Es beschäftigt einen. Wie würde man selbst reagieren, wenn es auf einmal zum Krieg kommen würde? Nicht nur in der Ukraine, sondern auch bei uns?
Es ist immer wieder so eine Frage, die man sich laufend zwischendurch stellt: wie würde man selbst reagieren? Wie hätte ich reagiert, wenn ich ein Alpini gewesen wäre? Wie würde ich reagieren, wenn mein Vater komplett unterschiedliche politische Ansichten hätte?
Wieder und wieder sind es Fragen, die ich mir gestellt habe und die mich, nachdem ich das Buch gelesen habe, nicht haben einschlafen lassen. Ich kann jedem nur sagen, wenn man etwas über die Ukraine, Russland und auch über das politische Nachkriegs Italien erfahren möchte, dann sollte man dieses Buch lesen. Aber man sollte keine kalten Füße bekommen vor den Gedanken, die man dabei vielleicht hat, wenn man sich selbst auch mal hinterfragt.
Titel: Kalte Füße
Autor/In: Melandri, Francesca
Übersetzer/In: Hansen, Esther
ISBN: 978-3-8031-3367-0
Verlag: Klaus Wagenbach Verlag
Preis: 24,00€
Erscheinungsdatum: 17. September 2024